10.07.2021
Mit einem lauten Kratzen kündigt es sich wieder an: Die Pulka hat erneut den Halt verloren und rutscht an dem steilen, vereisten Hang nach unten. Gleich wird sie unter mir hängen und an meinem Zuggeschirr zerren. Ich verkante meine Skier im Eis und bereite mich darauf vor, mich dem Gewicht entgegen zu stemmen. Zack! Ruckartig ziehen die 50 Kilo des orangenen Schlittens an meiner Hüfte. Ich schaffe es stehen zu bleiben. Mein Gepäck bleibt kopfüber liegen. Nur langsam kann ich die Pulka wieder zu mir hinaufziehen und wieder aufrichten. Ich atme tief durch, zittere vor Anstrengung und schaue über mich. Der umherfliegende Schnee lässt mich kaum fünf Meter weit gucken. Hoffentlich ist es nicht mehr allzu weit bis über den Sattel. Aber nur wenige Höhenmeter über mir, scheint es eine etwas hellere Stelle zu geben, dort muss der Übergang sein.
Vor einigen Tagen bin ich in der kleinen Stadt Oppdal aufgebrochen und seitdem im Dovrefjell unterwegs. Der norwegische Nationalpark liegt etwas südlich von Trondheim. Weil man die meiste Zeit oberhalb der Baumgrenze unterwegs ist, wachsen hier keine Bäume. In der Mitte dieser kargen, felsigen Landschaft steht die Snøhetta, ein markanter, 2286 Meter hoher Gipfel. Aber ich bin nicht zum Bergsteigen gekommen. Ich habe mir vorgenommen den Park von Norden her bis nach Kongsvold im Osten zu durchqueren und zu fotografieren. Auf dem Weg habe ich mir die kleine Hütte Loennechenbua zum Übernachten ausgesucht, ansonsten will ich aber im Zelt schlafen. Mich reizt die weiße, weite Landschaft, die Stille und die Vorstellung, ganz alleine, tief in das winterliche Fjell einzutauchen. Ich hoffe auf ruhige, reduzierte Motive und darauf, auch ein paar der Tiere zu sehen, die hier Winter für Winter unter den eiskalten Bedingungen überleben müssen. Schneehühner, Schneehasen, Polarfüchse und Moschusochsen gibt es hier oben und ich halte ständig Ausschau nach Spuren um sie finden und vielleicht sogar fotografieren zu können. Auch darum habe ich mich alleine auf den Weg gemacht. Denn alleine macht man weniger Lärm und kann, ohne sich abstimmen zu müssen, einfach Spuren folgen, wenn man denn welche findet. Gestern kreuzten frische Spuren meinen Weg. Ich glaubte deutlich die Tatzen eines Fuchses im Schnee erkennen zu können. Mit der Kamera folgte ich ihnen eine Ganze Weile, bis sie, zwischen Felsen und gepresstem Schnee, verschwanden.
Die komplette Ausrüstung transportiere ich auf einem Schlitten aus Kunststoff. Ich ziehe die Pulka an einem Seil hinter mir her. Alles was ich für diese Tour benötige habe ich also dabei. Ein Zelt, einen Schlafsack, Kleidung und für zehn Tage ausreichend Lebensmittel und Benzin für den Kocher. Da man im Winter kein Wasser findet, muss man Schnee schmelzen und braucht darum viel mehr Treibstoff als im Sommer. Hinzu kommt die Fotoausrüstung, das Stativ, zahlreiche Akkus und Speicherkarten. Insgesamt sind das am Ende rund 50 Kilogramm.
Mit all diesem Krempel stehe ich also jetzt in dem steilen, vereisten Hang und richte, nicht zum ersten Mal, die umgestürzte Pulka wieder auf. Während mir der Sturm weiter den Schnee ins Gesicht und auf die Skibrille bläst und mir so die Sicht nimmt, fange ich an daran zu zweifeln, ob es wirklich eine gute Idee war, mich alleine, im Winter auf den Weg gemacht zu haben. Als ich morgens aufbrach, war es noch windstill und so friedlich. Man hatte einen großartigen Blick über die Weite der schneebedeckten Berge. Das Fjell lag mir zu Füssen und es versprach ein großartiger Skitag zu werden. Aber dann zog sich der Himmel schnell zu, es wurde windig und ungemütlich und jetzt weht der Wind, mit über 20 Metern in der Sekunde, über das Fjell und lässt mich nicht mehr aufrecht stehen. So schnell kann es hier also gehen. Aber bin ich nicht auch aus diesem Grunde her gekommen? Wollte ich nicht erfahren, was die winterlichen Bedingungen hier draußen wirklich bedeuten? Und ist es nicht eigentlich sogar nur ein kurzer Einblick? Schließlich habe ich ja immer die Möglichkeit Unterschlupf in einer der Hütten, die es hier gibt, zu suchen. Schritt für Schritt steige ich weiter, immer weiter hoch, immer in die Richtung wo ich den Sattel erwarte. Zwischendurch wische ich mir immer wieder den Schnee von der Brille und werfe einen kurzen Blick auf das kleine Display des GPS Geräts um mich zu vergewissern, dass ich noch auf dem richtigen Weg bin. Den wird es flacher und ich erreiche endlich den Sattel. Zwischen den steilen Felswänden pfeift der Wind wie durch eine Düse und wirft meine Pulka erneut um. Ich muss hier schnellstens weg, wieder runter ins Tal. und obwohl die nächste Hütte sicher noch zwei Stunden entfernt ist, macht sich eine gewisse Erleichterung in mir breit. Ich bin erleichtert den Aufstieg geschafft zu haben und ich freue mich darauf, mich später vor dem Ofen aufwärmen zu können und nicht im Zelt schlafen zu müssen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreiche ich schließlich mein Ziel. In der Dämmerung und im umherfliegenden Schnee wäre ich beinahe vorbeigelaufen und erst wenige Meter bevor ich die Hütte erreiche, sehe ich endlich das eingeschneite Dach mit dem Schornstein. Der Tag war lang, ich habe Hunger, bin erschöpft und durchgefroren. Als der Ofen brennt, ich eine großen Portion Couscous gegessen und eine Kanne heißen Tee getrunken habe, wird mir langsam wieder warm. Bevor ich zu Bett gehe, zeichne ich, im Schein der Kerzen, noch die Routen der vergangenen Tage in die Karte ein und belohne mich mit einer ganzen Tafel Schokolade.
Am nächsten Morgen weckt mich das Heulen des Windes. Er zerrt an den kleinen Fenstern und man kann ringsum nichts als umherfliegenden Schnee erkennen. Ich beschließe abzuwarten. Ich habe keine Ahnung wie lange ich hier werde ausharren müssen und ich mache mir etwas Sorgen, ob ich noch eine Chance bekommen werde, Tiere zu sehen und die Fotos zu machen, wegen derer ich ja eigentlich aufgebrochen bin. Aber bei diesen Bedingungen ist es sinnlos weiterzulaufen.
Bei starkem Wind wirken die Temperaturen noch kälter und es wird extrem schwierig zu fotografieren. Das habe ich während der letzten Tage, bei deutlich besserem Wetter, bereits lernen müssen. Jedes Mal wenn ich die dicken Fäustlinge auszog musste ich mich beeilen, weil die Hände nach kürzester Zeit taub vor Kälte wurden und sie dann nur noch sehr schwer zurück in die Handschuhe zu stecken waren. Auch wenn ich mich in den Windschatten, dicht hinter die Pulka, gekniet habe, wurden nach einem kurzen Moment zuerst Hände, Füsse und schließlich der ganze Körper kalt. Gerne hätte ich viel mehr Bilder gemacht, so war es aber kaum möglich. Jetzt bleiben mir nur noch ein paar Tage Zeit, vielleicht habe ich ja Glück. Aber das Wetter kann man nicht ändern, man kann nur versuchen das Beste aus der Zeit zu machen. Glücklicherweise lässt sich in den Hütten des norwegischen Wandervereins so ein Unwetter gut aussitzen. Es gibt hier genug Brennholz, Wolldecken und Bücher, häufig sogar eine Speisekammer. Ich mache es mir mit Pfannkuchen am Ofen gemütlich, schaue den Flammen zu und denke über die vergangenen Tage nach.
Während die Wände der Hütte im Sturm beben und und der kleine Ofen seine Mühe hat den Raum warm zu halten, fange ich an zu begreifen, was Winter hier oben bedeutet. Bisher kannte ich das Dovrefjell nur im Sommer, als herrlich weite Landschaft in der man wandern, zelten und Blaubeeren pflücken kann. Aber jetzt ist in kürzester Zeit der blaue Himmel verschwunden und aus leichtem Wind ein Sturm geworden, der die weite, schneebedeckte Landschaft einfach verschluckt hat. Obwohl ich gut navigieren kann, habe ich doch immer wieder kurz die Orientierung verloren, weil die Sicht nur noch wenige Meter betrug. Und plötzlich fühlte es sich nicht mehr nur aufregend und abenteuerlich an, sondern richtig bedrohlich. Verkrochen in der kleinen Hütte, wird mir schnell klar: Das Dovrefjell ist kein Streichelzoo in den man einfach so hineinspazieren kann, um ein paar Tiere zu fotografieren. Besonders im Winter kann es in dieser Wildnis auch schnell gefährlich werden. Dankbar für den Schutz der Hütte lege ich ein Stück Holz nach und trinke meinen Kaffee.
Ein paar Tage später, lässt der Sturm nach. Immer wieder sieht man den blauen Himmel durch die Wolken blitzen. Es verspricht ein schöner Tag zu werden. Gerade rechtzeitig, denn meine Zeit im Dovrefjell neigt sich dem Ende und ich muss mich zurück in die Zivilisation machen. Die Bilder, die ich mir vor meiner Reise ausgemalt hatte, bringe ich dieses Mal nur zum Teil mit nach Hause, denn die Tiere, auf die ich so gehofft hatte, blieben im Schneegestöber verborgen. Bis auf die vermeintlichen Spuren eines Polarfuches, die ich am dritten Tag gefunden und dann leider auch schnell wieder verloren hatte, habe ich kein Lebenszeichen gefunden. Das Fjell, der Winter und das Wetter hatten ihre eigenen Pläne.
Und dann, nur zwei Stunden vor dem Erreichen der kleinen Bahnstation Kongsvold, am östlichen Rand des Dovrefjells, habe ich doch noch Glück. Ich wusste, dass meine Chancen hier gut sein würden, dennoch hatte ich nicht mehr wirklich damit gerechnet. Vielleicht habe ich sie auch deswegen fast übersehen: In der Ferne steht eine Gruppe Moschusochsen auf einem Hügel. Mit dem Fernglas kann ich sie erkennen. Genau da wo sie jetzt stehen, werden sie wohl auch geduldig, eng beisammen, gestanden und dem Sturm und der Kälte getrotzt haben. Während ich mich, mit Schlafsack und Kaffeebecher, ganz dicht vor den Ofen gehockt und gehofft habe, dass es endlich wieder aufhört zu stürmen. Und während ich noch demütig darüber nach denke, wie klein ich hier draußen bin, kreist weit oben am Himmel ein Adler über dem Fjell.
Mehr Bilder der Tour
Mehr Bilder von der Wintertour durch das Dovrefjell findest Du auf meiner Portfolio Seite.