Immer nach Norden

Von einem Wandersommer in Norwegen.

Dieser Artikel ist erstmals im Trekking-Magazin 09-2019 erschienen.

Mir ist heiß und der Rucksack liegt schwer auf Schultern und Hüfte. Das Thermometer zeigt dreizig Grad an und der schwarze Asphalt der Strasse reflektiert die Hitze. Ich kann kaum genügend trinken so schwitze ich. Es wird der wärmste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen werden. Besonders die ersten Tage, seitdem ich mich am 17.Mai in Lindesnes, dem südlichsten Zipfel Norwegens, auf den Weg nach Norden gemacht habe sind anstrengend. Sowohl an den Rucksack als auch an die schweren Stiefel muss ich mich erst wieder gewöhnen. Aber bis zum Nordkap ist es ja noch ein Stück, ich habe dafür also genügend Zeit. Davon abgesehen ist es aber herrlich. In Südnorwegen ist bereits der Sommer ausgebrochen, alles ist grün, überall blühen Blumen und es riecht nach frischen Gras. Die Tage sind lang, so lang, dass es auch Nachts nicht mehr richtig dunkel wird. Bereits gegen fünf wache ich häufig auf, weil die Sonne auf mein Zelt scheint und es im Schlafsack anfängt zu warm zu werden. Nur wenige hundert Kilometer nordwärts, oben in der Hardangervidda, liegt aber noch immer Schnee. Es hatte dort im vergangenen Winter viel geschneit und auf den großen Seen schwimmt noch immer Eis. Ein norwegischen Pärchen, das sich zwei Wochen vor mir in Richtung Nordkap auf den Weg gemacht hat, ist darum mit Skiern unterwegs. Ich folge Ute und Anders auf Instagram, so kann ich die Schneeverhältnisse besser einschätzen. Aber noch weiß ich nicht, ob ich den größten Nationalpark Norwegens zu Fuß durchqueren kann. Darum liegen bei meinem Freund Christoffer in Oslo, ebenfalls Skier und Stiefel, fertig verpackt im Flur. Das Paket wartet darauf, mit dem Bus nach Haukeliseter, an den südlichen Rand der kargen Hochebene, geschickt zu werden. Dort könnte ich es dann in Empfang nehmen, wenn es noch nötig sein sollte. Aber das entscheide ich vor Ort, wenn es so weit ist. Weil mir das eintönige Marschieren auf der Strasse schwer fällt, versuche ich möglichst viel durch Wälder und Berge zu wandern. Lieber mache ich den einen oder anderen Umweg, als zwischen Leitplanken und Fahrbahnmarkierungen geradeaus zu gehen. Weil die Strassen zumeist in Tälern verlaufen gewinne ich abseits schnell an Höhe und lasse sogar die Baumgrenze hinter mir. Es geht hier ein leichter Wind und es ist auch nicht mehr so heiß wie zuvor. Und dann scheint es so, als hätte sich mit der Höhe auch die Jahreszeit geändert. Vereinzelt sieht man jetzt Schneereste in Rinnen und Mulden liegen und dort wo der Schnee geschmolzen ist, hat er braune, plattgedrückte Gräser hinterlassen. Bis es hier wieder grün wird, dauert es sicher noch ein paar Wochen.

Zwei Münchner im Fjell

Kurz bevor ich die Hardangervidda erreiche, treffe ich eines Abends Andi. Er ist ein paar Tage nach mir am Leuchturm in Lindesnes aufgebrochen und auch auf dem Weg zum Nordkap. In Norwegen nennt man diese Tour "Norge på langs" oder auch einfach nur "NPL" also in etwa „Norwegen der Länge nach“. Weil Andi bis zu unserem Treffen mehr auf Strassen unterwegs gewesen ist als ich, war er schneller unterwegs und hat mich eingeholt. Wir essen gemeinsam zu Abend. Bei Würstchen und Bier verstehen wir uns auf Anhieb gut, sitzen lange zusammen, quatschen und lachen. Und spätestens als rauskommt, dass wir beide in München und kaum einen Kilometer voneinander entfernt wohnen, beschließen wir am kommenden Tag zu zweit weiterzulaufen und zu versuchen ein gemeinsames Tempo finden. In Haukeliseter wollen wir dann entscheiden ob es gut gepasst hat oder ob wir uns lieber wieder trennen. Aber es passt, gut sogar, so gut, dass wir viele hundert Kilometer gemeinsam zurücklegen werden. Unsere Freundinnen werden uns später noch häufig mit unserer „Bromance“ aufziehen. In den folgenden Wochen durchqueren wir zuerst die Hardangervidda und das Blåfjell. Wir erreichen anschließen den geografischen Mittelpunkt Norwegens und verbringen eine ganze Woche im Børgefjell um schließlich, Mitte August, den Nordpolarkreis zu überqueren. Nach weiteren zwei Wochen werden wir schließlich in Abisko ankommen. Hier trennen sich unsere Weg dann doch und ich laufe alleine weiter. Andi biegt in Richtung Tromsø ab. Sein Sabbatical endet bald, er muss zurück.

Der Sommer schafft es in die Berge

Aber so weit ist es noch nicht. Es ist erst Ende Juni und nun schafft es der Frühling endlich auch in die Berge. Nach und nach weicht das schmutzige, vertrocknete Braun den frischen Grüntönen der Gräser und Heidelbeeren. Die Hardangervidda hatten wir zuvor ohne Ski durchqueren können. Besonders auf den Nordseiten der Berge lag zwar noch recht viel Schnee aber der war fest und man konnte gut darin laufen. Die Südseiten waren allesamt frei. Die Sommerbrücken waren jedoch noch nicht wieder aufgebaut und so mussten wir mehr als einmal die Schuhe ausziehen und durch kalte, reißende Flüsse waten. Jetzt hört man in der Ferne aber oft den Kuckuck rufen und auch der Goldregenpfeifer ist immer häufiger zu sehen. Seine schrillen Pfiffe begleiten mich Tage lang durch das Fjell und geben mir das Gefühl nicht alleine in der Weite unterwegs zu sein. Während der Pausen versuche ich hin und wieder, mich nah genug an einen der Vögel heranzupirschen um ein gutes Foto zu machen. Aber natürlich sind die Tiere scheu und es braucht viele Anläufe bis ich es schaffe dicht heran zu kriechen, ohne bemerkt zu werden. Kleine Sträucher bieten mir eine gute Deckung und ich bringe genug Geduld auf, um mich ganz langsam zu nähern. Schliesslich schaffe ich es bis auf etwa fünf Meter heran und bleibe ruhig im Gras liegen. Ich wage kaum zu atmen, nur mein Zeigefinger bewegt sich. Das Bild hängt heute über dem Esstisch in der Küche.

Von kleinen und großen Tieren

Tiersichtungen wie diese gibt es immer wieder. Ich beobachte Greifvögel, die schreiend über mir kreisen, weil ich ihrem Nest zu nahe gekommen bin. Lemminge huschen über den Weg oder verstecken sich unter den Bolenwegen, die oft in Feuchtgebieten verlegt worden sind. Immer wieder scheuche ich auch Schneehühner auf. Das heißt, wir scheuchen uns eigentlich gegenseitig auf, denn die Tiere warten immer sehr lange, bevor sie mit einem lauten Geschnatter aufspringen und davon flattern. Wenn man so ganz ruhig über die Ebenen wandert, reißt einen sowas schon sehr abrupt aus den Gedanken. Und auch die ersten Rentiere bekommen wir schon nach wenigen Wochen zu Gesicht. Eine relativ große Herde von fast 100 Tieren läuft in einer Entfernung von 200 Metern über ein großes Schneefeld. Im Gegensatz zu den Tieren die ich später in Lappland sehen werde, trägt in dieser Herde keines eine Markierung. In Lappland gehören die Rentierherden den Sami, dem indigenen Volk Nordskandinaviens. Die hier in der Hardangervidda lebende Rentierpopulation ist jedoch wild.

Kiloweise Haferflocken und Schokolade

Viele NPLer planen ihre Route sehr genau durch. Sie besorgen sich alle Karten und zeichnen dann sämtliche Etappen ihrer Route ein. Per Post verschicken Sie Verpflegungspakete an Orte entlang der Strecke und nehmen diese im Laufe der Zeit wieder in Empfang. Diese Pakete enthalten Lebensmittel, neue Landkarten, manchmal auch neue Socken, T-Shirts und kleine Grüße aus der Heimat. Später im Jahr vielleicht auch einen wärmeren Schlafsack oder eine dickere Jacke. Ich habe auf derlei logistischen Aufwand verzichtet. Stattdessen stellte ich mir eine Liste mit Koordinaten, sämtlicher Supermärkte Norwegens, zusammen und speicherte sie in meinem GPS Gerät ein. So kann ich meine Strecke spontan planen und alles auf mich zukommen lassen. Natürlich hat das auch Nachteile. Ich kann zum Beispiel nur das essen, was es auch gerade zu kaufen gibt. Und so suche ich in ganz Norwegen vergeblich nach Polenta und irgendwann gibt es auch kein Milchpulver mehr zu kaufen. Aber ich hatte mich ohnehin auf einen wenig abwechslungsreichen Speiseplan eingestellt und damit gerechnet, mich größtenteils von Haferflocken und Couscous zu ernähren. Zum Porridge am morgen dürfen Zimt und Zucker nicht fehlen. Die absolute Krönung sind aber frisch gepflückte Blaubeeren als Topping. Mein Couscous würze ich einfach mit unterschiedlichen Tütensuppen. So gibt es mal asiatisch, indisch und mexikanisch oder Fischsuppe Bergen. Je nach Geschmacksrichtung der Suppe rühre ich mir Erdnüsse, Cashewkerne, Rosinen oder auch etwas Trockenfleisch oder Makrele mit in den Brei. Haferflocken und Couscous (und Polenta) haben eine gute Energiedichte und müssen nicht lange gekocht werden. Im Gegensatz zu Nudeln oder Reis, reicht es die Lebensmittel einfach ein paar Minuten in heißem Wasser quellen zu lassen. Das spart enorm viel Brennstoff und somit auch Gewicht im Rucksack. Tagsüber esse ich Knäckebrot, Kekse und Schokolade, dazu gibt es immer Kaffee. Das mag für viele so gar nicht nach einer Geschmacksoffenbarung, sondern eher extrem eintönig klingen. Dennoch, wenn man schon Wochen an der frischen Luft unterwegs ist, schmecken Kräcker und Instantkaffee herrlich. Besonders dann wenn man einen passenden Platz mit guter Aussicht gefunden hat und sich windgeschützt neben seinem Rucksack in die weichen Flechten sinken lassen kann.

Wege und Unterkünfte

Norge på langs ist keine ausgeschilderte Wanderung, so wie etwa der Jakobsweg oder der E5. Aber es gibt ein riesiges Netz ausgesprochen schöner Wanderwege, das vom Norwegischen Wanderverein DNT gepflegt wird. Darum orientiere ich mich viel am roten T, mit dem die Wege markiert sind. Entlang dieser Wanderwege finden sich im ganzen Land über 500 Hütten, die dem DNT gehören. In den Nationalparks gibt es einige große, bewirtschaftete Hütten mit vielen Betten, Waschräumen und Vollpension. Aber die meisten sind kleiner und nicht bewirtschaftet. Sie haben Platz für etwas zwischen vier und zwanzig Wanderern und können nur mit einem Generalschlüssel geöffnet werden. Mitglieder erhalten den sogenannten "Nøkkel" gegen einen geringen Pfand. Aber egal wie klein die Hütten sind, sie verfügen alle über die gleiche gute Grundausstattung. Es gibt einen Ofen mit Feuerholz, Betten und Bettzeug und eine Küchenzeile mit Gasherd, Töpfen, Geschirr und Besteck. Hinter der Hütte steht meist ein Plumpsklo und Wasser kann man mit Eimern an einem nahen Bach oder See schöpfen. Eine Vielzahl von Hütten verfügt zusätzlich über eine kleine Speisekammer in der man das Nötigste bekommen kann. Die Bezahlung basiert dabei auf Vertrauen. Man trägt einfach seinen Konsum auf einen Vordruck ein, fügt Kreditkartendaten oder Bankverbindung hinzu und kann so, mitten in der Wildnis, bargeldlos bezahlen. Für die Richtigkeit ist jeder selbst verantwortlich und dafür den Zettel in den großen stabilen Briefkasten neben der Tür zu werfen auch. Aber der Zustand der Hütten zeigt, dass das entgegengebrachte Vertrauen wohl nicht missbraucht wird. Im Gegenteil, wer hier übernachtet ist dankbar für die liebevoll eingerichteten Unterkünfte und holt auch noch schnell noch frisches Wasser und Brennholz bevor die Hütte morgens wieder verschlossen wird.

Wenn es mal den ganzen Tag geregnet hat und wir unbedingt Kleidung trocknen wollen freuen sich Andi und ich über die Hütten. Wenn der Regen an die Fenster prasselt und der Wind heult gibt es nichts gemütlicheres als bei einem Feuer im Ofen, in alten Zeitschriften zu blättern und Pfannkuchen mit Aprikosen aus der Dose zu essen. Und auch für Ruhetage bieten sich die Hütten an. Ansonsten nutzen wir sie aber nur selten. Meistens schlafen wir im Zelt, das fühlt sich am besten an. Denn niemals ist man sich so frei, wie wenn man einfach dort bleiben und ein Zelt aufbauen kann wo es einem gefällt. Nach Stunden des Wanderns und ohne einen anderen Menschen gesehen zu haben, schlagen wir unsere Zelte zumeist an einen Bach oder einem der zahllosen klaren Seen auf. Und wenn dann abends der Wind nachlässt, das Wasser spiegelglatt da liegt und sich die umliegenden Berge spiegeln, dann kann man die Stille förmlich sehen. Ich bin mir sicher, wir haben die schönsten Zeltplätze in ganz Norwegen gesehen.

Never get exhausted!

"Never get exhausted!" hatte Christoffer mir zu Beginn meiner Tour geraten. Er ist davon überzeugt, dass auf körperliche Erschöpfung früher oder später auch die mentale folgt. Besonders auf einer Wanderung über einen so langen Zeitraum ist es darum wichtig sich nicht zu sehr zu verausgaben. Andi und ich machen viele Pausen. Wir legen nicht nur ganze Ruhetage ein, wir planen auch am Tag regelmäßige Pausen ein. Und wir stellen uns sogar die Uhr dafür, um sie nicht zu vergessen. 60 Minuten Laufen, 30 Minuten Pause, 60 Minuten Laufen, 30 Minuten Pause. Mittags gönnen wir uns eine ganze Stunde. Andi hält dann häufig ein Nickerchen in der Sonne. In den Pausen hat man dann Zeit das T-Shirt, die Stiefel und auch die Socken auszuziehen um sie in der Sonne zu trocken. Dann wird gegessen, dazu gibt es immer einen Kaffee, das wird schnell zum Ritual. Die Leute, denen wir von unserem strengen Takt erzählen, finden das immer sehr deutsch. Aber der Grund ist ja einfach: Denn Christoffer hatte recht. Schon früh habe ich auf dieser Tour gemerkt was passiert, wenn mein Blutzuckerspiegel in den Keller sinkt. Ich bekomme dann ziemlich schlechte Laune, merke das aber nicht sofort und wandere dann, ohne jeglichen Spass zu verspüren durch die schöne Landschaft, auf die ich mich doch so gefreut hatte. Abends war ich dann so erledigt, dass ich mich auch über das Lagerleben nicht mehr richtig freuen konnte. Und dann habe ich mir diesen Rhythmus auferlegt und so angefangen, die Zeit zu genießen. Und da die Tage lang sind und es sowieso nichts anderes zutun gibt, kann man sich ja auch einfach regelmäßig in die Sonne setzten und in Ruhe den Blick schweifen lassen. Als ich dieses Vorgehen gleich am ersten Tag zur Bedingung für ein gemeinsames Wandern mache, springt Andi sofort drauf an. Er hatte ähnliche Erfahrungen gemacht. Nach ein paar Wochen sind wir allerdings deutlich fitter geworden. Die Rucksäcke merken wir kaum noch und die Stunden fliegen nur so dahin. Darum passen wir unseren Rhythmus etwas an. Wir wandern jetzt vormittags drei mal neunzig Minuten mit jeweils 30 Minuten Pause und nach dem Mittag noch einmal "zwei bis drei Blöcke", wie wir es nennen. So kommen wir auf eine Gehzeit von bis zu neun Stunden am Tag, was uns unserem Ziel so bis zu 35km am Tag näher bringt. Und trotz der dreizig Kilo Gepäck macht uns das kaum etwas aus. Es ist erstaunlich wie sich der Körper anpasst, wenn man ihm zwischendurch genug Zeit zum Regenerieren gibt.

Wandern wird zum Alltag, als hätte es nie etwas anderes gegeben

Auch Andi hat keinen Proviant vorausgeschickt und so steuern wir alle ein bis zwei Wochen den nächsten Supermarkt an um neuen Proviant zu besorgen. Meistens findet sich in der Nähe dann auch ein Campingplatz oder eine Hütte, wo wir den nächsten Ruhetag verbringen. Dann steht Wäsche waschen, Stiefel putzen und Materialpflege auf dem Programm. Außerdem essen und trinken wir jetzt Dinge, die wir nicht im Rucksack mit uns herumschleppen würden. Joghurt und Obst stehen dann ebenso hoch im Kurs wie Burger und Bier oder eine Pizza, und sei es an einer Tankstelle. Nach so einem Pausentag geht es dann motiviert zurück in die Wildnis. Die Wochen verfliegen und dieses Leben wird zum Alltag. Aufstehen, Haferflocken und Kaffee machen, frühstücken, Zelt abbauen und Rucksack packen und wieder aufbrechen. Dann wandern, pausieren, wandern, dann irgendwo Mittagspause machen, nachmittags das gleich nochmal, bis zum Abend. Dann das Zelt aufbauen, die Isomatte aufblasen und Wasser kochen, Abendbrot essen, noch etwas zusammensitzen, gute Nacht. Ein Freund der uns mal eine Woche lang begleitet hat ist fasziniert von unserer Routine und er hat wohl recht: Um das Lager aufzuschlagen oder wieder abzubauen benötigen wir keine viertel Stunden mehr. Um die Stiefel auszuziehen, durch einen Fluß zu waten und die Stiefel auf der anderen Seite wieder anzuziehen, höchsten drei Minuten. Wir sind in Übung und es fühlt sich an als wäre es das normalste der Welt. Und das gibt Sicherheit und Selbstvertrauen. Anfangs orientieren wir uns noch an Wegen und Hütten, später gehen wir immer öfter querfeldein. Wir wollen nach Norden? Dann gehen wir nach Norden! Mit Karte und Kompass einfach immer gerade aus. Das Ziel liegt an einem Fluss? Dann folgen wir doch einfach dem Wasser! Das klappt natürlich nicht immer ganz reibungslos und so müssen wir einmal neben einem großen Wasserfall die Felsen hinauf klettern um an dem Flusslauf weiter wandern zu können. Den Höhenunterschied auf der Karte hatten wir unterschätzt. Ein ein anderes Mal stehen wir an einem Fluss, dort wo auf der Karte eigentlich eine Brücke eingezeichnet ist. Statt der Brücke gibt es aber nur die Betonträger im Wasser. Wollen wir nicht einen vierzig Kilometer langen Umweg auf uns nehmen, müssen wir uns etwas einfallen lassen. Ein paar hundert Meter flussabwärts entdecken wir dann am anderen Ufer ein Ruderboot und beschließen es zu holen. Wir hatten uns vorher schon ausgemalt, wie wir die Rucksäcke wasserdicht verpacken und dann zu zweit, mit einem schwimmenden Rucksack in der Mitte, ans andere Ufer schwimmen. Im Nachhinein bin ich sehr froh die Tragfähigkeit dieses tollkühnen Plans nicht ausgetestet zu haben. Es wäre unnötig gefährlich geworden. Der Fluss hatte eine so starke Strömung, dass wir auch ohne Gepäck fünfzig Meter weit abgetrieben wurden. Das Wasser war erbärmlich kalt, so kalt, dass es schwer viel Luft zu holen. Und so waren wir froh, dass wir nur ein Mal schwimmen mussten und das Gepäck anschließend mit dem Ruderboot holen konnten. Aber auch so ist es eine Situation gewesen, die mir als eine der besten Anekdoten der Tour im Gedächtnis bleiben wird.

Und plötzlich steht der Herbst vor der Tür

Ende August ist der Sommer dann schlagartig vorbei. Es hat den ersten Nachtfrost gegeben. Das Zelt ist morgens weiß vom Raureif und die Eiskristalle zwischen Moos und Flechten glitzern in der tief stehenden Sonne. Mit dieser Nacht ist der Herbst gekommen. Besonders die Birken und Blaubeeren, die es hier im Øvre Dividal Nationalpark so viel gibt, färben sich nun besonders schnell. Vor wenigen Tagen war alles noch saftig grün. Jetzt leuchten die Blätter rot und gelb in der Sonne, wenn sie vereinzelt durch die dicken Wolken bricht. Es scheint als würde jemand versuchen besonders reizvolle Details in der Umgebung mit einem großen Scheinwerfer anzustrahlen. Zum fotografieren gibt es kaum etwas besseres. Im Minutentakt ändert sich das Licht und zaubert neue Stimmungen in die Landschaft. Immer wieder bleibe ich stehen, schaue, fotografiere. Es ist traumhaft schön und das Farbenspiel dieser Tage erlebe ich fast wie im Rausch. Eines Nachts wache ich auf weil ich dringend noch einmal aus meinem Schlafsack und hinaus in die Nacht muss. Mittlerweile wird es wieder richtig dunkel und so kann ich sehen, wie das grüne Licht am Himmel hin und her wandert. Zuerst nur verhalten, dann immer stärker. Ich bin so aufgeregt, dass ich vergesse meine Kamera aus dem Zelt zu holen. Ich hatte noch nie zuvor Nordlichter gesehen.

Eine Reise geht zu Ende

An das Nordkap denke ich in den letzten Wochen kaum mehr. Ich bin zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt. Meistens genieße ich einfach den Moment. Ich plane kaum weiter voraus als bis zur nächsten Kaffeepause oder bis zum abendlichen Lagerplatz. Vielleicht ist das die absolute Zufriedenheit, der Zustand den man "in sich ruhen" nennt. Aber irgendwann, kurz vor Alta, fange ich dann doch an mit mir zu hadern. Soll ich noch bis ans Nordkap laufen? Was ist, wenn es mir dort nicht gefällt? Ist das nicht so ein Touristenmagnet, wie ich ihn die ganze Zeit gemieden habe? Natürlich bin ich in der Lage, auch noch die letzen 200km zu schaffen. Ich habe keinerlei Schmerzen oder Probleme, aber irgendwie ist einfach die Luft raus. Und es geht hier ja auch nicht darum etwas zu schaffen. Ich habe einfach nicht mehr so viel Lust wie zuvor. Der ganze Sommer ist großartig gewesen, keinen Tag bereue ich. Aber ich erwartete nun keine Highlights mehr. Vielmehr schreckt mich die Vorstellung ab, mein Reise, nach Wochen der Ruhe und Einsamkeit, an einem Parkplatz voller Touristenbusse beenden zu müssen. Und dann erwische ich mich bei dem Gedanken, dass andere es vielleicht für Scheitern halten könnten wenn ich jetzt aufhöre und das Nordkap nicht erreiche. Schlagartig steht mein Entschluss fest: Nach fast fünf Monaten und über 2500 Kilometern, die ich nur für mich gelaufen bin, fange ich nun nicht mehr damit an, es anderen recht machen zu wollen. Mein persönliches Norge på langs endet hier. Ich werde nach Oslo reisen um noch ein paar Tage bei Christoffer zu verbringen und mich für seine Unterstützung zu bedanken. Vielleicht werde ich die letzten Kilometer irgendwann einmal nachholen. Vielleicht ja mit Andi oder mit Christoffer, vielleicht zu Fuß oder per Ski.

Viele weitere Bilder der Norge på langs Tour findest Du hier in der Gallerie

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